
Transformationspfade zur Selbstdisruption (Teil 2): Wege zur Umsetzung
Wie der erste Teil gezeigt hat, sind durch die AI-Revolution alle Elemente aktueller Geschäftsmodelle in Frage gestellt. AI ist aber nicht nur Bedrohung, sondern bietet zugleich auch die Lösungsansätze. Grund genug, sich damit im Detail zu beschäftigen:
Im Wertversprechen kann KI dazu befähigen, Leistungen radikal genauer, günstiger, schneller und skalierbarer anzubieten, was die Frage in den Mittelpunkt stellt: Was ist echter Nutzen? In den Kundensegmenten erlaubt KI-Einsatz, die Segmentlogik neu zu denken – etwa durch Microtargeting und adaptive Zielgruppen. Dadurch entsteht die grundlegende Frage: Wer ist „der Kunde“ überhaupt noch? Die Kanäle werden durch KI-basierte Interfaces wie Chatbots, Recommender und Auto-Antwortsysteme verändert, die Frage aufwirft: Was wird entbehrlich, was wird erwartet? Kundenbeziehungen wandeln sich von menschlicher Beziehung zu automatisierter Mustererkennung, womit man zu der kritischen Frage kommt: Ist Bindung noch menschlich? Und braucht man menschliche Bindung überhaupt?
Neue Monetarisierungsmodelle entstehen durch Daten, Lizenzen und API-Zugriff – das alte Pricing zerfällt. Schlüsselressourcen verändern sich, da menschliches Wissen, Erfahrung und Intuition teilweise externalisierbar werden, was die Frage nach sich zieht: Welche Wertformen lassen sich künftig monetarisieren? Schlüsselaktivitäten werden durch automatisierbare Routinen und KI-unterstützbare kreative Prozesse neu definiert: Was ist dann „tätig sein“ noch? Die Schlüsselpartnerschaften zeigen neue Abhängigkeiten von Tech-Stacks, OpenAI, Microsoft, NVIDIA und API-Ökosystemen – verbunden mit der Frage: Wer sind die neuen Machtzentren und was folgt daraus, welche Abhängigkeiten entstehen? Und in der Kostenstruktur fallen Fixkosten, während KI neue Investitionslogiken für Trainingsdaten und Infrastruktur erzeugt, wodurch die Kostenstruktur beweglicher wird. Diese umfassende Destabilisierung erzeugt einen Möglichkeitsraum für grundlegende Neugestaltung.

Vier Wege zur Selbstdisruption: Wer sich entschieden hat, den Weg der Strategischen Selbstdisruption zu gehen, kann sich ihr auf vier grundlegend verschiedenen Wegen annähern.
Der erste Weg ist der Spinoff: Sein Kernprinzip ist die Gründung autonomer Einheiten mit explizitem Mandat zur Kannibalisierung des Kerngeschäfts. Die Umsetzung beginnt mit der Identifikation disruptiver Geschäftsmodellkonzepte ohne Rücksicht auf bestehende Strukturen. Es folgt die Ausgründung als eigenständige Einheit mit eigener Kultur und eigenen Bewertungssystemen. Anschließend erfolgt die strategische Ressourcenausstattung mit Talenten, Kapital und Daten sowie die Definition eines Wachstumspfads mit klaren Meilensteinen. Der Prozess schließt mit der orchestrierten Integration oder Ablösung des Stammgeschäfts.
Ein Beispiel für diesen Ansatz ist Ørsted (ehemals DONG Energy). Das Unternehmen gründete eine separate Einheit für erneuerbare Energien, die das Kerngeschäft mit fossilen Brennstoffen systematisch kannibalisierte. In weniger als einem Jahrzehnt wandelte sich Ørsted vom größten Kohlekraftwerks-Betreiber Dänemarks zum weltweiten Marktführer bei Offshore-Windenergie mit einer Marktkapitalisierung, die sich mehr als verdreifacht hat. KI-Technologien spielten dabei eine Schlüsselrolle: Digital Twins ermöglichten die parallele Simulation neuer Geschäftsmodelle ohne Risiko für das Kerngeschäft, während automatisierte Wissensextraktion den Transfer zwischen Stammhaus und Spinoff sicherstellte. KI-gestützte Szenarien halfen zudem bei der strategischen Planung von Wachstums- und Integrationspfaden.
Der zweite Weg ist die Plattform, welche die Transformation vom Produktanbieter zum Orchestrator eines Wertschöpfungsökosystems ermöglicht. Das Vorgehen beginnt mit der Identifikation des Kernbedürfnisses hinter dem eigenen Produktangebot, gefolgt von der Entwicklung einer Plattform, die verschiedene Akteure zur Bedarfserfüllung vernetzt. Anschließend erfolgt der Aufbau des Partnerökosystems mit komplementären Fähigkeiten und die Etablierung von Standards und Schnittstellen für nahtlose Integration. Der Prozess wird durch die schrittweise Erweiterung des Plattformumfangs und der Wertschöpfungstiefe abgerundet. Michelin liefert ein überzeugendes Beispiel, indem es sich vom Reifenhersteller zur EFFIFUEL™-Plattform transformierte, die durch KI-gestützte Flottenanalyse den Treibstoffverbrauch um durchschnittlich 2,1 Liter/100km reduziert und damit sowohl ökonomischen als auch ökologischen Mehrwert schafft. KI-spezifische Hebel umfassen Algorithmen zur optimalen Partnerzusammenstellung innerhalb des Ökosystems, Echtzeit-Orchestrierung dezentraler Wertschöpfungsprozesse und KI-gestützte Qualitätssicherung und Standardisierung.
Der dritte Weg, die Zirkularität, führt vom linearen zum geschlossenen Kreislauf durch systematische Umgestaltung aller Geschäftsprozesse zur vollständigen Kreislaufführung. Die Umsetzung beginnt mit einer Material- und Energieflussanalyse des bestehenden Geschäftsmodells, gefolgt vom Redesign von Produkten und Prozessen für Kreislauffähigkeit. Anschließend werden Rücknahme- und Wiederaufbereitungssysteme aufgebaut und neue Geschäftsmodelle basierend auf Mehrfachnutzung entwickelt. Der Prozess kulminiert in der Integration in breitere Kreislaufsysteme über Unternehmensgrenzen hinweg. Caterpillar's Remanufacturing-Programm demonstriert diesen Ansatz, indem es jährlich über 80.000 Tonnen Materialien zu "wie neu"-Produkten mit gleicher Garantie wie Neuprodukte verarbeitet, aber mit 50-60% geringeren Kosten und 90% weniger Energie- und Materialverbrauch. KI unterstützt diesen Pfad durch präzise Prognosen der optimalen Rückführungs- und Aufbereitungszeitpunkte, automatisierte Qualitätsbewertung zurücklaufender Komponenten und KI-gestützte Optimierung von Materialkreisläufen über Unternehmensgrenzen hinweg.
Der vierte Transformationsweg ist die Funktion, die Transformation von verkaufs- zu nutzungsbasierten Geschäftsmodellen. Der Prozess beginnt mit der Identifikation der eigentlichen Kundenbedürfnisse hinter dem Produktkauf und der Entwicklung von Metriken zur Messung der Bedarfserfüllung. Darauf folgt die Umstellung auf nutzungs- oder ergebnisbasierte Vergütungsmodelle sowie die Optimierung des Ressourceneinsatzes durch langlebige Produkte. Begleitet wird der Ansatz durch kontinuierliche Verbesserung der Nutzungseffizienz durch Produktevolution. Rolls-Royce's "Power by the Hour"-Modell geht diesen Weg, indem es Flugzeugantriebsleistung statt Triebwerke verkauft und durch KI-gestützte prädiktive Wartung und kontinuierliche Optimierung der Betriebsparameter den Treibstoffverbrauch um bis zu 5% reduziert. KI-spezifische Hebel umfassen Echtzeit-Monitoring aller Leistungsparameter, prädiktive Wartung zur Maximierung der Verfügbarkeit und KI-gestützte Optimierung der Nutzungseffizienz.
Ein strukturierter Implementierungsansatz für eine erfolgreiche Umsetzung setzt auf unserem Konzept „Transformation Spiral“ auf. Das ist ein simultaner Ansatz systemischer Erneuerung, mit folgenden Schritten:
Schritt 1, die strategische Positionierung (1-3 Monate), umfasst eine Vulnerabilitätsanalyse zur systematischen Bewertung der Disruptions-Anfälligkeit des bestehenden Geschäftsmodells mit KI-basierter Simulation von Disruptionsszenarien und Quantifizierung der ökonomischen und ökologischen Risiken. Hinzu kommt ein Transformations-Readiness-Assessment zur Bewertung der Transformationsfähigkeit durch Analyse kultureller, struktureller und technologischer Voraussetzungen sowie Identifikation von Change Champions und potenziellen Widerständen. Die Phase schließt mit der strategischen Zielsetzung zur Definition des angestrebten Zielzustands, einschließlich der Festlegung klarer Transformationsziele und KPIs sowie der Entwicklung eines strategischen Narrativs für internen und externen Wandel.
Schritt 2 widmet sich dem Design des Zukunftsmodells (2-4 Monate) und beginnt mit radikaler Geschäftsmodell-Innovation zur Entwicklung disruptiver Alternativen durch Neukonfiguration aller BMC-Elemente und Integration von KI-Potenzialen und Nachhaltigkeitsprinzipien. Es folgt die Transformationspfad-Wahl, also die Entscheidung für einen oder mehrere der vier Pfade, basierend auf der Bewertung der strategischen Passung und Umsetzbarkeit sowie der Definition des optimalen Portfolios aus Transformationsinitiativen. Die Phase wird abgerundet durch die Entwicklung eines Business Case mit Quantifizierung von Investitionsbedarf und erwarteten Ergebnissen, vollständiger Erfassung von direkten und indirekten Wertpotenzialen sowie Simulation verschiedener Markt- und Umsetzungsszenarien.
Schritt 3 konzentriert sich auf Pilotierung und Skalierung (6-18 Monate) und beginnt mit der Entwicklung einer Minimum Viable Transformation, also des kleinsten sinnvollen Piloten, durch Definition eines begrenzten, aber repräsentativen Anwendungsbereichs und Aufbau der minimalen notwendigen Strukturen und Ressourcen. Es folgen Prototyping und Iteration mit schnellen Lern- und Anpassungszyklen, systematischer Erfassung von Feedback und Ergebnissen sowie kontinuierlicher Optimierung des Geschäftsmodells. Die Phase schließt mit der strategischen Skalierung erfolgreicher Ansätze durch einen definierten Pfad zur Ausweitung auf weitere Geschäftsbereiche und einen Skalierungsplan mit klaren Meilensteinen und Entscheidungspunkten.
Schritt 4, die systemische Integration (12-36 Monate), beginnt mit der organisatorischen Neuausrichtung durch Anpassung der gesamten Organisation, Transformation von Strukturen, Prozessen und Systemen sowie Entwicklung neuer Führungs- und Zusammenarbeitsmodelle. Es folgt die Ökosystem-Integration durch Einbindung in breitere Transformationsbewegungen, strategische Partnerschaften für systemische Veränderungen und Kollaborationsplattformen für branchenweite Standards. Die Implementierung wird abgerundet durch die Etablierung einer kontinuierlichen Evolution in Form eines permanenten Transformationsprozesses mit systematischen Erneuerungszyklen als Teil der Unternehmens-DNA und dem Aufbau einer zukunftsfähigen Fähigkeitsplattform.
Die erfolgreiche Selbstdisruption muss anhand konkreter Metriken gemessen werden, die über traditionelle Finanzkennzahlen hinausgehen.
Im Bereich der ökonomischen Resilienz sind dies die Disruptionsrobustheit, also die Fähigkeit, Marktanteile auch unter veränderten Rahmenbedingungen zu halten, die Adaptionsgeschwindigkeit, gemessen an der Zeit von der Erkennung neuer Marktanforderungen bis zur Implementierung, sowie die Wertschöpfungsintensität, definiert als Wertschöpfung pro eingesetzter Ressourceneinheit. Die ökologische Performance wird erfasst durch die absolute Ressourcenreduktion, also den Gesamtverbrauch kritischer Ressourcen im Vergleich zum Ausgangszustand, die Kreislaufrate als Anteil der Materialien, die im geschlossenen Kreislauf geführt werden, sowie die Netto-Positiv-Bilanz, die die regenerative Wirkung auf Ökosysteme und Biodiversität misst. Im Bereich der sozialen Wirkung sind die relevanten KPIs beispielsweise das Befähigungspotenzial, gemessen an der Steigerung der Handlungsfähigkeit von Kunden und Communities, der Inklusionsgrad, definiert als Zugänglichkeit für unterschiedliche sozioökonomische Gruppen, sowie das Mitarbeiter-Entwicklungspotenzial, also der Aufbau zukunftsfähiger Fähigkeiten im Unternehmen. Die transformative Kapazität schließlich wird gemessen an der Innovations-Radikalität, dem Grad der Abweichung von etablierten Branchenparadigmen, der Systemwirkung, also dem Einfluss auf die Transformation anderer Marktteilnehmer, sowie dem Skalierungspotenzial, der Fähigkeit zur Ausweitung der Wirkung ohne proportionalen Ressourcenzuwachs.
Selbstdisruption durch KI-getriebene nachhaltige Geschäftsmodelle ist kein abstraktes Konzept, sondern eine konkrete strategische Option für zukunftsorientierte Unternehmer. Der hier aufgezeigte Möglichkeitenraum zeigt strukturiert Ansatzpunkte für die Transformation des eigenen Geschäftsmodells. Der entscheidende erste Schritt ist die ehrliche Bewertung der eigenen Disruptions-Anfälligkeit und die Bereitschaft, bestehende Erfolgsmuster grundlegend in Frage zu stellen. Wer diesen Schritt heute geht, sichert sich einen strategischen Vorsprung in der unvermeidlichen Transformation zu einer nachhaltigkeitsorientierten, KI-gestützten Wirtschaft. Die Frage ist nicht, ob das eigene Geschäftsmodell disruptiert wird, sondern ob man selbst der Disruptor sein wird.